[16.12.] Ode an die Big Boxen, Strophe 5: Illusion of Time

[16.12.] Ode an die Big Boxen, Strophe 5: Illusion of Time

Es ist nun echt schon um die 15 Jahre her, dass Illusion of Time den Weg in meine Sammlung gefunden hat? Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, als der Soulblazer-Nachfolger zum ersten Mal im Modulschacht meines SNES landete und mich quasi im Minutentakt mehr und mehr beeindruckte: Die verhältnismäßig fotorealistische Weltkugel samt bombastischer Fanfare im Titelscreen, die im Vergleich zu Zelda und Co. enorm großen und detailliert dargestellten Sprites (sogar die Haare des Hauptcharakters flatterten im Wind), die ausladenden Dialoge (auch wenn ich damals mit 8 Jahren oft nur die Hälfte verstand, da ich dummerweise auch hier die UK-Version erwischt hatte...erst später fand ich die deutsche Big Box mit Spieleberater), die liebevoll designte Stadt South Cape, welche durch die angenehme Musik richtig heimelig wurde, die reichlich zoomende Weltkarte und gleich im einleitenden Dungeon die herrlichen Monster in ungemütlicher Umgebung und mit perfekt passender Musik: So etwas hatte ich bis dato noch nicht erlebt.

Ich will natürlich festhalten, dass ich keinerlei Interesse daran habe, hier nur Lobeshynmen zu singen: Als sehr handlungszentriertes Spiel fehlt nicht nur eine Zelda-mäßige Oberwelt, es gibt sogar zahlreiche „Points of no return“, sprich, oft ist es einfach nicht möglich, auf der Weltkarte zu einem bereits besuchten Ort zurückzukehren, wenn er erzählerisch nicht mehr relevant ist (Der riesige Sidequest „Finde die 50 roten Juwelen“, welcher eine wirklich tolle Belohnung bereithält, kann somit gar unlösbar werden, wenn ihr auch nur einen der Glitzersteine verpasst). Die übergreifende Story um den unheilbringenden Chaos-Kometen und die sechs mystischen Statuen, welche ergattert werden müssen, um ihn aufzuhalten, bleibt trotzdem das Spiel über etwas zu wenig greifbar (höhöhö) und abstrakt; Dialogsequenzen gibt es zwar reichlich, doch sind diese teils etwas langatmig, ohne den Leser wirklich schlauer zu machen (Golden Sun-Ausmaße erreicht die Textflut aber zu keinem Zeitpunkt).

Doch heißt dies keineswegs, dass die Handlung insgesamt enttäuscht: Sie besteht schließlich aus unzähligen Sub-Plots, die fast alle auch wirklich im Gedächtnis bleiben und auch düstere Themen wie Sklaverei aufgreifen; als der junge Held Will in eine scheinbar überaus idyllische und freundliche Stadt reiste und sich in eine Seitenstraße verirrte, wo dämonische Menschenhändler ihrem Handwerk nachgingen, die ihm mit den Worten „Verschwinde, Kinder haben hier nichts verloren! Oder willst du einen Sklaven kaufen...? Diese hier sind genauso alt wie du...“ zynisch ihr „Sortiment“ erschreckend junger Sklaven vorführten, musste ich als jemand, der die fröhliche Atmosphäre eines Zelda 3 oder Secret of Evermore gewohnt war, doch kurz schlucken. Das Kunststück der Entwickler hierbei besteht aber auch darin, dass einerseits solche überaus ernste Momente und ein wenig verstörende Szenen (Erwartet natürlich keinen Horror, ich meine dies für die Verhältnisse eines Spiels, das heute sicherlich keine höhere USK-Wertung als „ab 6“ hätte) stimmungsvoll eingebettet wurden, aber der Gesamtgeschichte nicht die Leichtigkeit eines unterhaltsamen Abenteuer-Schinkens, der irgendwo zwischen japanophilem Weltenretter-Epos und Indiana Jones angesiedelt ist, nehmen.


Einfach ganz großes Kino: Will Alter Ego, der dunkle Ritter Freedan, im Kampf gegen das gewaltige Monstrum Castoth, was sich in den Inka-Ruinen eingenistet hat. Der alptraumhafte Soundtrack passt dazu perfekt.

Und was die ganzen Geschehnisse umso interessanter macht, ist sicher auch die Glaubwürdigkeit der Heldentruppe um Halb- bis Vollwaise Will (als einziger Spielbar): Die Welt in Illusion of Time ist zwar ein ungewöhnlicher Mix aus dem Kontinenten-Layout von vor ein paar Millionen Jahren, legendären und real existierenden Ruinen wie Bauwerken der Inka, der Ebenen von Nazca, dem Atlantis-Cousin Mu oder dem Turm von Babel und belebten, mitelalterlich bis neuzeitlich anmutenden Städten, aber es handelt sich um kein typisch japanisches Fantasy-Mittelalter, wo jeder den Windeln Entwachsene offenbar gleich im Gebrauch von Schwert und Magie geschult wird.

Vielmehr beginnt die Geschichte am Ende eines Schultags (eine schöne Analogie, da ich mit dem Schrillen der Schulglocke nach der letzten Stunde auch insbesondere „Zeit zum Videospielen!“ verbinde) und dreht sich um eine Kinder-Clique, die sich jeden Abend in einer Grotte am Hafen zum Kartenspielen trifft und mit realistischen Problemen wie ständig streitenden Eltern oder (im Fall des Protagonisten) der Ungewissheit, ob sein vermisster Vater wohl noch unter den Lebenden weilt, zu kämpfen haben. Der passionierte Flötenspieler Will ist dabei auch keinesfalls von Anfang an ein Superheld (auch wenn er über leichte telekinetische Kräfte verfügt) und besitzt gerade mal besagtes Instrument als Behelfs-Waffe – wenn ein korrupter König befiehlt, ihn völlig unschuldig in den modrigen Kerker zu werfen, springt er nicht (wie so viele Japano-Jünglinge der Marke „Mr.Cool“) mit einem lässigen Spruch auf und vermöbelt die Wachen im Alleingang, sondern fleht lediglich die Königin an, ihren Gatten davon abzubringen, aber erntet nur einen hochmütigen Kommentar.

Klar, wenn Will später mit Hilfe der Erdgöttin Gaia in die Gestalt des dunklen Ritters Freedan oder - gegen Ende -des ätherisch-flüssigen Wesens Shadow transformiert, die mit Schwert oder purer Energie angreifen, steigt er sehr wohl in die Superhelden-Liga auf, aber ich denke, ihr versteht, was ich meine: Der harmlose, bodenständige Junge ist einfach glaubwürdig und sympathisch gleichermaßen und eine der gelungensten Identifikationsfiguren im Adventure-/RPG-Bereich, die ich kenne. Für viele der NPCs gilt ähnliches – sogar Prinzessin Kara (Tochter des besagten zwielichtigen Königs, welche sich Will bald anschließt) zeigt eine richtige Persönlichkeit, nachdem sie anfangs eher wie die Karikatur einer verwöhnten Göre anmutet.

Und auch wenn ich eingangs erwähnten, offensichtlichen Kritikpunkt nicht rechtfertigen will – aber die Einschränkungen, zu zuvor besuchten Schauplätzen zurückzukehren, machen in Bezug die Erlebnisse der Hauptfiguren teils sogar Sinn: Wenn Will und Kara etwa nach einem Schiffbruch wochenlang auf einem behelfsmäßigen Floß umhertreiben und schließlich unbekanntes, aber rettendes Land erreichen, ist es schon verständlich, dass sie keine große Lust haben dürften, gleich wieder auf dem Seeweg in ihr Heimatland zurückzureisen und nach irgendwelchen roten Juwelen zu suchen. Und auch wenn ich es ungern zugebe – auf eine gewisse Art und Weise wird das abenteuerliche Feeling sogar durch den Umstand, dass man nicht jederzeit überall hin kann, ein wenig intensiviert: Wer durch die Kräfte seltsamer Geistwesen in einen wunderschönen, kilometerhoch schwebenden Himmelsgarten teleportiert wird, kann eben nicht mal eben runterspringen und ein wenig durch die nächste Stadt bummeln.

Aber nachdem ich so viel über die Story geschrieben habe, hier noch ein paar Worte zum Spielgefühl: Neben den sehr schön designten Städten gibt es zwar keinen Hauch einer Oberwelt, sondern nur Dungeons – doch ziehen diese dafür alle Register! Klassische Verschieberätsel a la Zelda sind relativ selten, aber ändert dies keineswegs etwas daran, dass die Kerker wesentlich verzweigter und puzzlelastiger sind als etwa in Secret of Mana: Oft müssen alle möglichen, nach und nach erlernbaren Spezialfähigkeiten (so kann z.B. Will wie ein Tornado herumwirbeln oder Freedan Feuerbälle schleudern) angewandt werden, um überhaupt alle Gegner in der Umgebung erwischen zu können – denn manchmal ist dies vonnöten, damit es überhaupt weiterget (ähnlich wie die versiegelten Türen in Zelda); in anderen Fällen wird uns dann zumindest eine Aufbesserung der Statuswerte spendiert.

Aber natürlich gibt es auch Spielchen der Marke „Finde Item A und setze es an Ort B ein“, immer wieder Rätsel, die sich um die Frage „Will, Freedan oder Shadow?“ drehen – so gelingt es etwa ausschließlich dem kleinen Titelhelden, mittels eines Specialmoves durch niedrige Tunnels zu rutschen und nur der Ritter kann mit seiner Schusskraft entfernte Schalter betätigen, während sich Shadow sogar verflüssigen und durch den Boden tropfen kann.

Ein anderes Beispiel sind die vier Segmente der herrlichen Himmelsgärten von Nazca (zweites großes Dungeon), welche in jeweils einer hellen und einer dunklen Version existieren, zwischen denen immer wieder gewechselt werden muss – eine verzwickte Geschichte. Ihr seht schon: Langweilig wird es in den actionreichen Stages (mit Zelda-ähnlichem Kampfsystem) niemals, und die leider nur relativ seltenen, aber dafür umso wuchtigeren Bossmonster bilden hierbei besondere Highlights.

Kurz: Illusion of Time ist ein überaus sympathisches, spannendes und alles andere als kurzes Action-Adventure, das zwar nicht ganz an den spielerischen Variantenreichtum eines Zelda herankommt (keine Oberwelt, im Wesentlichen keine „richtigen“ Sidequests außer der – dafür riesigen – Juwelenjagd und kein so gewaltiges Item-Arsenal wie Link), aber dennoch hervorragendes Gameplay, ein Füllhorn von tollen Ideen, einzigartige Settings (seit ich das Spiel kenne, würde ich wahnsinnig gerne einmal die real existierenden Nazca-Ebenen besuchen...) und eine ganz und gar eigenständige Atmosphäre mitbringt. Damals wie heute ein Highlight – wenn ihr euch für das Genre begeistern könnt, dann kann ich euch die Anschaffung dieser Perle nur empfehlen! So wie ich auf der letzten Wiener Retrobörse, welche kürzlich stattfand, im Chor mit dem Verkäufer auf den unentschlossenen Kollegen funderos eingeredet habe, er solle sich IoT doch gefälligst zulegen - und Erfolg hatte. Davon, dass sich das Spiel auf der Virtual Console bis dato rar macht, lasst ihr euch ja hoffentlich nicht abschrecken!

verfasst von „OldMacMario“

Diesen Artikel teilen:

Letzte Aktualisierung: 16.12.2010, 17:01 Uhr